G. Weber (Hrsg.): Ps.-Xenophon, Die Verfassung der Athener

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Titel
Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener. Griechisch und deutsch. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt


Herausgeber
Weber, Gregor
Reihe
Texte zur Forschung 100
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Frankfurt am Main

Die Demokratie als politisches System steht heutzutage eigentlich in keinem der westlichen Staaten mehr ernsthaft zur Disposition, mag es auch vereinzelt Kritik an politischen Entscheidungsprozessen und -verfahrensweisen geben. Dass dies erst eine moderne, zeitgeschichtliche Entwicklung darstellt und keinesfalls ein globales Phänomen ist, wie die für uns befremdlichen Auffassungen von „Demokratie“ in einigen Staaten zeigen, ist eine notwendige Grunderkenntnis, um die eigenartige, unter Xenophons Namen auf uns gekommene Schrift „Der Staat der Athener“ in ihrem Wesensgehalt erfassen zu können. Diese ist nun – nach der bisher maßgeblichen deutschen Übertragung Kalinkas vor knapp 100 Jahren 1 – in einer Edition mit neuer Übersetzung und mit umfangreicher Einleitung sowie Einzelkommentar von Gregor Weber, Althistoriker an der Universität Augsburg, vorgelegt worden.

Gut strukturiert arbeitet Weber dabei in seiner Einführung (S. 9–42) die wesentlichen Fragen sowie den Kontext dieser wohl ältesten erhaltenen griechischen Prosaschrift heraus. Da ist zunächst der Titel Athenaion politeia (S. 9–12), der das Werk in den überlieferten Handschriften in das Oeuvre Xenophons einreiht, was die Forschung jedoch seit dem 19. Jahrhundert mit guten Gründen abgelehnt hat und die Schrift daher unter „Pseudo-Xenophon“ bzw. im angelsächsischen Raum unter „the Old Oligarch“ führt, wobei sich letztere Bezeichnung ursprünglich auf das Alter der Schrift, nicht des nach wie vor unbekannten Autors bezog. Während der Titel eine systematische Darstellung der „Verfassung der Athener“ suggeriert, wie wir sie von Aristoteles oder auch von Xenophon selbst zur „Verfassung der Spartaner“ kennen, handelt es sich jedoch bei Pseudo-Xenophons Werk um eine kritische „Reflexion über die politische Ordnung“ (S. 10). Dabei wird die konsequente Durchgestaltung der Demokratie zunächst ganz offen, auch in ihren Vorteilen bezüglich der ökonomischen und militärischen Stärke, darlegt, um diese dann mit moralischen Werturteilen zu diskreditieren und die demokratische Gestaltungskraft den Standesgenossen – denkbar ist nach Weber eine Hetairie, also ein exklusiver Club von Aristokraten – als Gegenbild zu ihrem eigenen Unvermögen vorzuführen, eine eigene politische Ordnung zu etablieren.

Nach dieser Standortbestimmung, die Weber wie auch im Folgenden mit einer weiterführenden Literaturauswahl unterlegt, zeichnet der Herausgeber ein kurzes Bild der Entwicklung hin zur demokratischen Ordnung und den Zuständen im Athen während des Peloponnesischen Kriegs (S. 12–19), wobei er sich insbesondere der Frage nach der Kritik an der Demokratie seitens der sogenannten Oligarchen zuwendet. Dabei konstatiert er zu Recht ein erst langsames Wachsen einer demokratiefeindlichen, fest umrissenen Gruppe, die sich nicht schon im Konflikt zwischen Perikles und Thukydides Melesiou 443 v.Chr. gezeigt, sondern erst während des Peloponnesischen Kriegs, insbesondere nach dem Nikias-Frieden 421 v.Chr. als aktiv gegen die demokratische Ordnung agierende Hetairie konstituiert habe. Deren Wirken belegt er dann an den verschiedenen oligarchischen Aktivitäten, vor allem am Ersten Oligarchischen Umsturz von 411/10.

Für die nachfolgende Datierungsfrage der Schrift (S. 20–25) stellt Weber systematisch die vier unterschiedlichen Ansätze der Forschung – vor dem Peloponnesischen Krieg, zu dessen Beginn, zwischen dem Nikias-Frieden und der Sizilischen Expedition oder nach der Sizilischen Expedition bzw. den Oligarchischen Umstürzen – zusammen und gibt kurz die Argumentation der die jeweilige Datierung vertretenden Forscher wieder. Er selbst plädiert mit einer Reihe von Gründen plausibel für eine Datierung der Schrift in die erste Kriegsphase, den sogenannten Archidamischen Krieg. Anschließend erörtert Weber die bisherigen Versuche, die Schrift einem historisch fassbaren Autor zuzuweisen (S. 25–27), und kommt dabei zu dem richtigen Ergebnis, dass beim gegenwärtigen Quellenstand alle Identifikationsversuche reine Spekulation seien. Es folgen noch Hinweise zur bislang nicht vollständig erschlossenen Überlieferungslage, zur neuen Edition (S. 27–29) und der dem originalen Wortlaut verpflichteten Übersetzung (S. 29f.). Die Einleitung schließt mit einer umfangreichen Bibliographie (S. 31–42).

Nach dieser Einleitung folgt die eigentliche Schrift „Die Verfassung der Athener“ mit griechischem Original und aus Sicht des Rezensenten gelungener deutschen Übertragung (S. 44–62). Der kurze, lediglich drei Kapitel umfassende Text wartet mit zahlreichen schwierig zu übersetzenden, da im griechischen Original kryptisch formulierten oder aufgrund der Überlieferung problematischen Passagen auf, was die philologische Forschung zu zahlreichen Konjekturen angeregt hat. Diese bietet Weber in einem eigenen Verzeichnis der textkritischen Anmerkungen (S. 165–168), wobei er wichtige textkritische Phänomene auch im Einzelkommentar aufgreift.

Erst mit dem Kommentar (S. 65–164) entfaltet die vorliegende Edition dann ihre volle und bereichernde Wirkung. Die in der deutschen Übersetzung mit Fußnoten gekennzeichneten Einzelkommentare behandeln ausführlich die philologischen Probleme sowie die historischen Fragen rund um den Text und bringen ihn erst wirklich „zum Sprechen“. Stets auf der Höhe der aktuellen Forschung arbeitet Weber hier die eigentümliche Denkweise des unbekannten Autors heraus, der als Kritiker der Demokratie dennoch deren konsequente Systematisierung des politischen Lebens anerkennen muss und dies seinen Standesgenossen als Spiegel der eigenen Unfähigkeit bei der Formulierung einer tragfähigen politischen Ordnungskonzeption vorhält. Dabei geht Weber nicht nur auf die nähere Umgebung der pseudo-xenophontischen Schrift ein, sondern zeichnet mit der Erläuterung der im Text genannten politischen Institutionen, Ereignisse oder Fachtermini in dia- wie synchroner Weise ein pointiertes und prägnantes Bild der politischen Ordnung Athens im 5. Jahrhundert v.Chr., was die zahlreichen Querverweise, die trotzdem manchmal Doppelungen nicht ganz auffangen können, sowie das Stellen-, Personen- und Sachregister (S. 169–176) noch unterstützen.

Webers fruchtbares Zusammenführen von philologischer und althistorischer Sichtweise wird zweifellos diese Textausgabe neben den bisher maßgeblichen englischen Kommentaren 2 und den mittlerweile veralteten Erläuterungen Kalinkas fest etablieren. Die Ausgabe sollte daher in keiner altertumswissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

Anmerkungen:
1 Ernst Kalinka, Die pseudoxenophontische Athenaion politeia. Einleitung, Übersetzung, Erklärung, Leipzig 1913.
2 Neuere Kommentare: Robin Osborne, The Old Oligarch. Pseudo-Xenophon´s Constitution of the Athenians. Introduction, Translation and Commentary, 2. Aufl., London 2004; John L. Marr / Peter J. Rhodes, The ‚Old Oligarch‘. The ‚Constitution of the Athenians‘, Warminster 2008; weitere Übersetzungen und Kommentare nennt Weber auf S. 29, Anm. 105f. sowie S. 31.

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